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Warum so viele Enterprise-Designsysteme scheitern

Bernd FeldmayerUX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&ISenior Product-Designer Sascha Werder bei UX&I
Von

Bernd Feldmayer, Flora Maxwell & Sascha Werder

UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I

Designsysteme sind mehr denn je en vogue. Kaum ein größeres Unternehmen hat noch keines aufgebaut oder zumindest in Planung. Doch allzu oft folgt auf eine aufwendige und kostspielige Erstellung Ernüchterung: Das Designsystem ist auf einem Stand, mit dem man gut loslegen könnte – aber niemand nutzt es. 

Auf dem Papier klingt alles vielversprechend: klare Komponenten, definierte Regeln, zentrale Doku. Doch gerade in komplexen Organisationen bleibt das System oft eine Bubble, die im Projektalltag kaum Wirkung entfaltet. Hier liegt der Knackpunkt: Wirkung entsteht nicht durch die bloße Erstellung des Systems, sondern durch das, was Teams daraus machen. Im Enterprise-Umfeld muss ein Designsystem im komplexen Geflecht aus verschiedenen Produkten, Stakeholder*innen und Prozessen funktionieren. Zudem löst nicht jedes System automatisch die richtigen Probleme. Manchmal ist es schlicht nicht das passende Werkzeug für die aktuelle Situation.

In diesem Artikel schauen wir uns an, woran du erkennst, dass dein System noch nicht das volle Potenzial ausschöpft, was die häufigsten Ursachen sind und wie du es zu einem echten Produktivitätsfaktor machst.

5 Symptome für Optimierungsbedarf

Ein Enterprise-Designsystem soll die Arbeit schneller, konsistenter und einfacher machen und zudem das Teamwork verbessern. Wenn es diese Zwecke nicht erfüllt, zeigt sich das in der täglichen Arbeit. Manche Symptome sind offensichtlich, andere schleichen sich leise ein und werden erst erkannt, wenn schon viel Aufwand und Zeit umsonst investiert wurde.

Treffen die folgenden Anzeichen auf dein Designsystem zu?

  • Geringe Akzeptanz und Nutzung: Du stellst fest, dass Designer*innen Komponenten doppelt bauen oder weiter ihre eigenen UI-Lösungen pflegen. Entwickler*innen arbeiten mit unterschiedlichen Code Bases. Im Sprint-Review tauchen Elemente auf, die so nicht im System stehen, oder es wird erst gar nicht gefragt, ob es dafür schon etwas gibt. Das System wird in Projekten umgangen und taucht in der Kommunikation nicht auf.
  • Keine sichtbare Qualitätssteigerung: Trotz Designsystem wirken Produkte uneinheitlich. Buttons sehen in jeder Anwendung etwas anders aus, Abstände und Schriftgrößen variieren, Wordings sind inkonsistent. Selbst Basics wie Text- oder Farbstyles werden nicht konsequent verwendet. Die Nutzeroberflächen fühlen sich nicht wie aus einem Guss an.
  • Keine Beschleunigung: Abstimmungen und Entscheidungen dauern weiterhin lange, weil in immer wieder in großen Runden diskutiert wird, wie ein Element aussehen oder funktionieren soll. Übergaben zwischen Design und Entwicklung sind genauso aufwendig wie zuvor. Taucht in einem Produktteam Bedarf für eine neue UI-Komponente auf, ist bereits klar, dass es lange dauern wird, bis diese tatsächlich verfügbar sein wird. Das Designsystem verlangsamt eher die Delivery.
  • Unklarheit über den aktuellen Stand: Es gibt immer wieder Unsicherheit, welche Version einer Komponente gültig ist. Es existieren verschiedene Stände und es gibt keine zentrale, verlässliche „Single Source of Truth“. Zudem ist oft nicht klar, welche Qualitätskriterien bereits berücksichtigt und umgesetzt wurden, zum Beispiel die Barrierefreiheit.
  • Unverhältnismäßiger Ressourcenbedarf: Das System verschlingt mehr Budget und Personal, als sein tatsächlicher Nutzen rechtfertigt. Ressourcen, die eigentlich für Produktentwicklung oder andere strategische Projekte gebraucht würden, sind dauerhaft im System gebunden.

Je mehr dieser Punkte du ankreuzen würdest, desto klarer ist: Das System existiert, aber es erfüllt seinen Zweck nicht. Wir gehen den möglichen Problemen nun auf den Grund, so dass du sie zielgerichtet lösen kannst.

Fehler im System? Typische Stolpersteine im Enterprise-Umfeld

Die genannten Symptome sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Sie sind das, was wir im Alltag merken. Hinter geringer Nutzung, Frustration im Team, fehlender Beschleunigung oder Qualitätsproblemen stecken jedoch tiefere, strukturelle Ursachen. Sie sind in vielen Organisationen erstaunlich ähnlich. Wenn du sie kennst, kannst du an den richtigen Stellen ansetzen, statt nur die Symptome zu bekämpfen.

Die prominentesten Fehlerquellen:

  • Kein klares Ziel: Das Designsystem wurde eingeführt, weil „man das jetzt so macht“ oder weil Designer*innen es auf eigene Initiative eingeführt haben, da sie selbst einen Bedarf haben. Es wurde zu wenig darauf geachtet, welches Problem eigentlich gelöst werden soll und welche Bedarfe andere Stakeholder*innen haben, zum Beispiel Entwickler*innen. Es bleibt unklar, ob das Designsystem eigentlich die richtige Lösung ist. Es wurden keine eindeutigen Erfolgskriterien definiert und niemand kann eindeutig sagen, woran der Nutzen des Systems gemessen wird.
  • Unklare Verantwortung: Pflege, Priorisierung und Weiterentwicklung liegen nicht eindeutig bei einer Person oder einem Team. Entscheidungen versanden, Änderungen passieren unkoordiniert, und jeder hat eine andere Vorstellung davon, wer zuständig ist. Updates verzögern sich und es ist schwer, Verbindlichkeit im Team herzustellen.
  • Zu großer Wurf: Der Anspruch, direkt ein umfassendes System mit allen Komponenten und Regeln zu schaffen, verzögert den Start. Monate vergehen, bevor das System nutzbar ist. Bis dahin haben Teams längst wieder eigene Lösungen gebaut. Aufwände für ein System, das bis ins Detail fertig ist, werden unterschätzt, Ressourcen werden knapp und das Designsystem ist letztendlich nicht nutzbar. Obwohl, oder gerade weil, es mit so großen Ambitionen begonnen hat.
  • Fehlendes Bewusstsein über den Nutzen: Designer*innen, Entwickler*innen oder POs verstehen nicht, welchen konkreten Vorteil das System für sie hat. Sie sehen vor allem zusätzlichen Aufwand oder eine Art „Polizei”, die nur Regeln vorschreibt und Freiheiten nimmt. Sie arbeiten lieber weiter wie bisher. Oft erleben wir auch, dass Teams schlicht keine Lust haben, sich damit auseinanderzusetzen. Manchmal kennen sich Mitarbeiter*innen nicht mit den neuesten Figma-Features aus und es macht sich Überforderung bis Angst breit, damit zu arbeiten.
  • Mangelnde Zusammenarbeit zwischen Design und Entwicklung: Ein Designsystem ist ein Teamsport, es kann nur entstehen, wenn an einem Strang gezogen wird. Dies muss allen bewusst sein und gelebt werden. Gerade Design und Entwicklung müssen sich auf Augenhöhe begegnen und gleichermaßen an der Entstehung und Verwendung interessiert sein. Dies ist auch abseits vom Designsystem essenziell, aber wir haben oft erlebt, dass es gerade hier schnell ein Show-Stopper wird und zu viel Frustration und unproduktivem Klima im Team führt.
  • Fehlende strategische Verankerung: Das Designsystem ist weder fester Bestandteil der täglichen Design- und Entwicklungsabläufe noch mit der Produktstrategie oder wichtigen Unternehmenszielen verknüpft. Ohne Integration in Workflows und ohne strategischen Bezug bleibt es ein isoliertes Projekt, das im Zweifel eher als Zusatzaufgabe gesehen wird als als zentrales Werkzeug.
UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I

„Meine Erfahrung: Wenn die Initiative aus dem Team selbst kommt und es keinen PO oder andere*n Stakeholder*in gibt, die oder der dafür verantwortlich sind, dann werden für das Designsystem kaum Kapazitäten und Budget eingeräumt. Das Designsystem ist wie ein eigenes internes Produkt, das mit eben so einem Produktteam auch geplant und gestafft werden muss.”

Jasmin Amend

Senior UI-Designerin bei UX&I

Was ein funktionierendes Enterprise-Designsystem auszeichnet

Bevor wir zu den Lösungen kommen, ein kurzer Blick auf das Optimum: Was macht Designsysteme aus, die im Enterprise-Umfeld einen verlässlichen, zugänglichen Rahmen bieten und die eine Art verbindendes Zuhause schaffen, das Orientierung gibt, Entscheidungen vereinfacht und genug Flexibilität lässt, um auf neue Anforderungen zu reagieren?

Zentral dafür ist die praktische Nutzbarkeit. Alles ist einfach und verständlich zu finden und es gibt klare Ansprechpartner bei Fragen zur Nutzung. Die Dokumentation ist leicht zugänglich, aktuell und so formuliert, dass sie nicht nur beschreibt, sondern anleitet. Auch die Komponenten selbst sind einfach zu handhaben und im Idealfall selbsterklärend. Alle Komponenten, Muster und Regeln sind strukturiert und standardisiert.

Genauso wichtig sind klare Prozesse: Pflege, Erweiterung und Feedback folgen definierten Abläufen. Entscheidungen, welche Elemente aufgenommen oder angepasst werden, sind transparent und nachvollziehbar. Die Zusammenarbeit zwischen Design- und Entwicklungsteams ist systematisiert und die Einhaltung der Regeln wird durch Governance sichergestellt.

UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I
UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I

Pragmatische Lösungen, die du jetzt angehen kannst

Wenn du bei den 5 Symptomen am Anfang des Artikels gedankliche Haken gesetzt hast, kennst du nun einige der wichtigsten Ansatzpunkte. Für jedes dieser Probleme gibt es Schritte, die sich gezielt umsetzen lassen, und oft schon Wirkung zeigen, ohne das bestehende System von Grund auf neu zu denken. 

Vorweg: Bei allen Lösungswegen wird deutlich, dass ein Designsystem immer Teamwork ist. Niemand muss und sollte alles allein schultern, auch nicht die Optimierungen. Genau dieses Teamwork ist übrigens ganz nebenbei eine geheime Superpower von Designsystemen. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, schau dir in unserem Showcase an, wie das Designsystem bei Sartorius zum Katalysator für Austausch im Team wurde.

UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I
UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I
Ein Designsystem als Community-Builder bei Sartorius

Symptom: Geringe Akzeptanz und Nutzung

Lösungen: Alle Beteiligten sollten von Anfang an einbezogen werden, sich gehört fühlen und die Möglichkeit haben, aktiv mitzuwirken, z. B. durch Kommentarfunktionen und über feste Ansprechpartner*innen. So wird nicht nur das Designsystem besser, sondern durch den IKEA-Effekt (Dinge sind wertvoller, wenn man sie selbst baut) wird es auch leichter akzeptiert. Stärke von Anfang das Bewusstsein, dass das Designsystem ein gemeinsames „Baby” ist. Sorge zudem dafür, dass es ein klares Ownership gibt, nicht nur im Design, sondern auch bei den Devs und den POs: ein dediziertes Team oder eine Person, die das System aktiv in Projekten verankert. Achte außerdem darauf, dass ein Onboarding für alle Menschen existiert, die das Designsystem nutzen sollen. Dieses sollte anhand realer Projektszenarien zeigen, wie das System Zeit spart und Qualität sichert. Prüfe auch regelmäßig anhand konkreter Beispiele, wo das System in aktuellen Projekten erfolgreich eingesetzt wurde, und trage diese Erfolgsindikatoren in die Teams.

Damit ein System Arbeit abnimmt, muss das auch gewollt werden. Dieses Wollen zu fördern, ist eine entscheidende Aufgabe, auch kommunikativ.

Symptom: Keine sichtbare Qualitätssteigerung

Lösungen: Stelle klar definierte Qualitätsstandards sicher, die verbindlich dokumentiert und zugänglich sind. Initiiere regelmäßige Qualitätsreviews, bei denen Design und Entwicklung gemeinsam prüfen, ob das System konsistent und technisch aktuell ist. Prüfe auch bei neuen Projekten, ob sie die Standards einhalten, und fordere gegebenenfalls Korrekturen ein. Bei Nutzertests aus Produkten, die neue Komponenten beinhalten, sollte das Feedback immer auch an das Designsystem-Team weitergegeben werden, damit das System kontinuierlich optimiert werden kann.

Konsistenz passiert nicht von selbst. Sie ist das Ergebnis klarer Standards und konsequenter Pflege.

Symptom: Keine Beschleunigung

Lösungen Stelle sicher, dass das System in allen relevanten Produkt- und Entwicklungsprozessen, vom Sprint-Planning bis zum Deployment, berücksichtigt wird. Kläre mit Design- und Dev-Leads, wie Komponenten in Figma, Storybook oder Code-Repos nahtlos zugänglich gemacht werden. Finde heraus, wie das System Entscheidungen im Projektalltag beschleunigt oder wo es aktuell noch bremst. Wichtig ist auch, dass die Produktteams ausreichend Autonomie und Handlungsfreiheit haben, um ihre Anforderungen umsetzen zu können.

Ein Designsystem beschleunigt nur, wenn es da liegt, wo die Arbeit passiert.

Symptom: Unklarheit über den aktuellen Stand

Lösungen: Sorge für eine zentrale, verlässliche „Single Source of Truth“, die für alle zugänglich ist. Führe Prozesse ein, über die veraltete Komponenten konsequent gekennzeichnet oder entfernt werden. Bei jeder neuen Version sollte transparent gezeigt werden, was geändert wurde, wann und warum. Es sollte außerdem kommuniziert werden, wann welche Komponenten hinzukommen, wie lange der alte Stand genutzt werden soll und wie so lange mit Änderungen im Produkt umgegangen werden soll.

Klarheit ist der größte Hebel für Vertrauen, Vertrauen ist die Basis für Nutzung.

Symptom: Unverhältnismäßiger Ressourcenbedarf

Lösungen: Prüfe Daten zur tatsächlichen Nutzung der Komponenten und priorisiere Inhalte, die am häufigsten verwendet werden. Lege Budgets generell ganz bewusst so fest, dass die größten Hebel zuerst bedient werden. Zudem sollte die Erwartungshaltung bei allen Stakeholder*innen klar gesetzt sein: Das Designsystem ist kein Projekt, es ist ein Prozess. Kleine, kontinuierliche Schritte sind besser als ein Big Bang.

Ein gutes System wächst mit dem Bedarf – nicht mit dem Wunsch, alles auf einmal zu lösen.

Fazit

Ein Enterprise-Designsystem bringt die Herausforderung mit sich, dass eine Vielzahl von komplexen und unterschiedlichen Produktwelten in einem System verortet werden muss. Das allein kann wie eine Mammutaufgabe wirken. Hinzu kommt, dass es im ebenso komplexen Projektalltag funktionieren muss und von unterschiedlichsten Menschen mit vielfältigen Bedürfnissen, Kenntnissen und Herausforderungen genutzt werden muss.

Entscheidend ist: Das Designsystem muss kein perfektes Endprodukt sein, um Wirkung zu entfalten. Es herrscht noch immer ein zu großer Anspruch auf Perfektionismus und der Wunsch, mit etwas „fertig“ zu werden. Aber ein Designsystem lebt, es skaliert und entwickelt sich im besten Fall immer wieder weiter. Für diese positive Weiterentwicklung gibt es effektive Stellschrauben. Viele davon kennst du nun und kannst gezielt an ihnen drehen. 

Auch wenn euer aktuelles Designsystem gerade ins Stocken geraten ist: Der richtige Zeitpunkt, das zu verändern, ist immer jetzt. Wir haben in vielen Projekten gesehen, dass die typischen Hürden in komplexen Produktlandschaften ähnlich sind, und dass sich selbst Systeme mit geringem Nutzen in leistungsfähige Werkzeuge verwandeln lassen. Die größten Hebel liegen oft darin, Strukturen zu schärfen, statt sie zu ersetzen. Du bist mit diesen Herausforderungen nicht allein. Wir wünschen dir viel Erfolg!


PS: Du brauchst Sparring oder Hilfe, um dein Enterprise-Designsystem wirksamer zu machen? Erfahre hier, wie wir dich unterstützen können.

Unsere Expert*innen

Bernd Feldmayer

Bernd Feldmayer

Senior UI-Engineer

Mit Fokus auf Designsysteme und Nutzerzentrierung entwickelt Bernd skalierbare Frontends und macht Teams durch Schulungen fit für den Alltag.

UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I

Flora Maxwell

Senior UI-Designerin

Flora denkt Design vom Menschen her – und bringt mit klarem Blick fürs Wesentliche Struktur in komplexe Anwendungen. Sie hilft Teams, Produkte durch intuitive Gestaltung voranzutreiben.

Senior Product-Designer Sascha Werder bei UX&I

Sascha Werder

Senior Product-Designer

Saschas Schwerpunkt liegt in der Konzeption und Umsetzung intuitiver Interfaces, die nicht nur ästhetisch ansprechend sind, sondern echten Mehrwert und positiven Impact bieten.

Inhaltsverzeichnis
  1. 5 Symptome für Optimierungsbedarf
  2. Fehler im System? Typische Stolpersteine im Enterprise-Umfeld
  3. Was ein funktionierendes Enterprise-Designsystem auszeichnet
  4. Pragmatische Lösungen, die du jetzt angehen kannst
  5. Fazit

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