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Interview

UX im hochkomplexen Forschungsumfeld: Interview mit Dr. Christian Matyas vom LIfBi

Juliana Hirsing, Senior UX-Writerin
Von

Juliana Hirsing

UX-Beratung mit Büros in Düsseldorf, München und Berlin | UX&I
Mit

Dr. Christian Matyas

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Wenn Forschung, Entwicklung und viele Fachbereiche zusammenkommen, wird es schnell anspruchsvoll, Nutzenden gerecht zu werden. Das LIfBi hat sich dieser Herausforderung gestellt und gemeinsam mit UX&I ein Projekt gestartet, das Klarheit bringt: Wer nutzt unser Tool, was brauchen diese Menschen und wie kommen wir zu besseren Entscheidungen. Dr. Christian Matyas, Arbeitsbereichsleiter am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) und Christian Ringleb, Senior UX-Berater bei UX&I, erzählen, wie sie UX im Forschungsbetrieb erstmals praktisch umgesetzt haben und warum der gemeinsame Lernprozess im Team der wichtigste Schritt war.

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Dr. Christian Matyas

Arbeitsbereichsleiter

Logo LIfBi

Das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe ist eine zentrale Forschungsinfrastruktur, die Bildungsprozesse von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter untersucht. Dr. Christian Matyas leitet seit seiner Promotion zum Thema „Geografische Empfehlungssysteme" den Arbeitsbereich Software-Entwicklung. Seitdem interessiert er sich für Ideen und Konzepte, wie Software-Entwicklung in einem kleinen Team gelingen kann. Seit 2020 liegt der Fokus seiner Weiterbildung auf Themen rund um UX. Im Interview berichtet er mit Christian Ringleb von UX&I über die besonderen Bedingungen im Forschungsbetrieb und über die Erkenntnisse, die ihr gemeinsames Projekt ermöglicht hat.

Senior UX-Berater Christian Ringleb bei UX&I

Christian Ringleb

Senior UX-Berater

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Christian ist seit 2020 fester Bestandteil von UX&I. Seit über zwei Jahrzehnten konzipiert und gestaltet er digitale Produkte, die für Menschen funktionieren – fundiert, nachvollziehbar und mit Sinn fürs Machbare. Dabei spricht er sowohl die Sprache des Business als auch der Technologie und sorgt für kluge Designentscheidungen auf Basis solider Forschungsdaten.

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Interview

Was macht das LIfBi und welche Rolle spielt der Metadateneditor (MDE)?

Dr. Christian Matyas:

Das LIfBi begleitet Menschen in groß angelegten Längsschnittstudien über viele Jahre hinweg, um besser zu verstehen, wie Lernen und Bildung gelingen. Wir arbeiten mit mehreren Altersgruppen, die jährlich erneut befragt werden. Dabei ist wichtig, dass Fragestellungen über lange Zeiträume konsistent bleiben.

Der MDE ist unser zentrales Werkzeug, um diese Inhalte zu dokumentieren und für neue Erhebungen weiterzuentwickeln. Mit ihm verwalten wir die Fragen, die in unseren Studien eingesetzt werden, und machen nachvollziehbar, wann und wie sie genutzt wurden.

Ursprünglich war der MDE für die frühe Fragebogenentwicklung gedacht. In der Praxis wurde er über 10 Jahre hinweg zu einem Archiv entwickelt. Mit der Umstellung von Papier und Bleistift auf digitale Befragungen kehrte man zum ursprünglichen Anspruch zurück und dadurch wuchs die Zahl der Nutzenden deutlich. Dadurch entstanden neue Anforderungen, die bei uns nicht mehr vollständig ankamen. An diesem Punkt wurde klar, dass wir Struktur brauchen und verstehen müssen, wer den MDE nutzt und welche Bedürfnisse dahinterstehen.

Wann wurde euch klar, dass euch der direkte Kontakt zu euren Nutzer*innen fehlt und welche Folgen hatte das für den MDE?

Dr. Christian Matyas:

Der Moment kam später, als er hätte kommen sollen. Mit einer neuen Startkohorte sind wir erstmals komplett digital in die Befragung gegangen. Plötzlich hatten wir viel mehr Menschen, die mit dem MDE arbeiten mussten, und wir haben ihren Stress im Alltag kaum mitbekommen.

Erst nach etwa eineinhalb Jahren hatten wir direkten Kontakt zu den neuen Nutzergruppen. Da wurde deutlich, wie herausfordernd der Umgang mit dem MDE für einige war. Die Gespräche wurden sehr emotional geführt, weil bestimmte Abläufe einfach nicht gut funktionierten, gleichzeitig der Zeitdruck sehr hoch war.

Das hat uns gezeigt, wie weit wir uns vom realen Nutzungskontext entfernt hatten und wie dringend wir wieder verstehen mussten, was die Menschen brauchen, die mit dem MDE arbeiten.

Was hat euch damals bewegt, externe UX-Expert*innen dazu zu holen und welche Lücke konnte damit geschlossen werden?

Dr. Christian Matyas:

Ich hatte mich selbst zum UX-Professional weitergebildet, aber im Alltag fehlte die Zeit, UX wirklich anzuwenden. Beim MDE gab es viel operative Arbeit und gleichzeitig die Lücke, die unser Anforderungsanalyst hinterlassen hatte, als er in Rente ging.

Uns war klar, dass wir jemanden brauchen, der Erfahrung mitbringt und uns im laufenden Prozess über die Schulter schaut. Jemand, der nicht nur erklärt, wie UX funktioniert, sondern uns hilft, sie im Projekt umzusetzen.

Der Kontakt zu UX&I entstand zufällig auf einem UX-Festival. Da wurde schnell klar: Das ist die Unterstützung, die uns gefehlt hat, um aus Theorie echte Praxis zu machen.

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Vom Problem zum Lösungsraum

Christian Ringleb, du kennst viele Projekte in großen Organisationen. Was war hier am Anfang anders und wie hast du den Einstieg erlebt?

Christian Ringleb:

Das Forschungsumfeld war die größte Besonderheit. Ich dachte zuerst, es wäre vielleicht weniger komplex als beispielsweise ein großer Konzern, aber das Gegenteil war der Fall. Sobald wir eine Frage gestellt haben, öffneten sich überall neue Ausnahmen. Jeder Sachverhalt hatte mehrere Sonderfälle. Das Projekt gehörte zu den komplexesten, die ich bisher erlebt habe.

Gleichzeitig bin ich auf eine Haltung getroffen, die UX sehr nah ist. Und ich musste Research nicht erklären oder rechtfertigen. Das Team wollte verstehen, wie man gute Software entwickelt, und war bereit, sich auf den Prozess einzulassen. Da hilft natürlich, dass am Institut insgesamt die absoluten Forschungsexpert*innen arbeiten und es eine grundlegend offene Haltung gegenüber unseren Research-Aktivitäten gab. 

Es ging nie darum, dass wir die Arbeit übernehmen. Die Erwartung war klar: Bringt uns ins Tun. Genau das hat den Einstieg so besonders gemacht.

Ihr habt euch gegen klassische Beratung entschieden und UX direkt im Alltag gelernt. Wie seid ihr dabei vorgegangen?

Dr. Christian Matyas:

Wir hatten den Vorteil, dass in dieser Phase wenig anderes anstand. Das hat uns ermöglicht, uns wirklich auf das Lernen einzulassen. Mit klassischer Beratung wären wir nicht weit gekommen. Das Budget war klein und hätte nur kurzfristig geholfen. Uns war wichtiger, UX im Team zu verankern, weil uns die Rolle im Requirements Engineering fehlte. Jeder sollte einmal erleben, wie UX funktioniert.

Christian Ringleb:

Wir haben mit einer zweitägigen UX-Grundlagenschulung begonnen. Diese war konkret auf das Institut und seine Herausforderungen zugeschnitten. Wir haben über emotionale Grundbedürfnisse im Nutzungskontext gesprochen, über Methoden, die für euch sinnvoll sind, und schon erste Forschungsfragen entwickelt. Alles wurde direkt mit eurem Alltag verknüpft.

Danach haben wir das Vorgehen geplant. Welche Personen müssen wir einbeziehen, welche Auswirkungen hat das, wie schaffen wir einen guten Buy-in. In einer Vorevaluationsphase haben wir wichtige Nutzergruppen identifiziert und sind dann direkt  in den Problemraum gegangen: Nutzer*innen rekrutieren, Fragen ausarbeiten, Interviewleitfäden erstellen, moderieren, beobachten, mitschreiben. Jede Person im Team hat jede Rolle einmal übernommen.

Die Erkenntnisse haben wir in einer Experience Map sichtbar gemacht. Das hat uns ein erstes gemeinsames Bild über Prozesse und Umfeld gegeben. Erst danach sind wir in den Lösungsraum gewechselt und haben Ideen entwickelt. Der Schwerpunkt lag aber klar auf dem Problemraum.

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Projektablauf

Wo wurde es fachlich, sprachlich oder kulturell besonders anspruchsvoll und was hat euch geholfen, dranzubleiben?

Dr. Christian Matyas:

Wir wurden in den Nutzerinterviews von Informationen überschüttet. Obwohl wir uns auf zwei Zielgruppen und eine Forschungsfrage konzentriert haben, ist eine riesige Experience Map entstanden.

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Experience Map (Rohversion) als Grundlage für klare Entscheidungen und fokussierte Prioritäten

Die Interviews waren voller neuer Details, und das war für uns alles andere als Routine. Ich war in meinem ersten Interview so neugierig, dass ich selbst den Fokus verloren habe. Es war für unser Team ein komplettes Verlassen der Komfortzone.

Gleichzeitig haben wir viel gelernt, weil jede Person einmal Fehler gemacht hat. Die Workshops, in denen wir hunderte Einzelaussagen zu etwas Nutzbarem verdichtet haben, waren unglaublich wertvoll. Und es hat geholfen, jemanden dabei zu haben, der uns durch diese Schritte führt. In einem vierstündigen Termin haben wir als Team Teile übernommen und Christian hat den Rest strukturiert. Das war eine gute Mischung.

Christian Ringleb:

Es gab zwei große Herausforderungen. Die erste war, sich wirklich auf die Gespräche mit den Nutzenden einzulassen. Viele im Team dachten anfangs, sie seien als Entwickler nicht die richtigen Personen dafür. Am Ende sind daraus richtig gute Interviewer geworden. Ein klarer Interviewleitfaden hat sehr geholfen.

Die zweite Herausforderung war die Modellierung der Erkenntnisse. Das tut anfangs immer weh, es führt aber dazu, dass man selbst durch den Prozess geht und versteht, was wirklich zählt. Kulturell war es anspruchsvoll, nicht zu früh in Lösungen zu springen. Das Team wollte gerne wieder programmieren, aber es hat verstanden, warum der Problemraum vorgeht. Besonders spannend war, UX-Research in einem Umfeld zu machen, das selbst professionell forscht. Die Offenheit und Dankbarkeit dafür, dass wir strukturiert vorgegangen sind, war groß.

Und ein wichtiger Aha-Moment für uns alle: wie wertvoll direkte Gespräche mit einzelnen Menschen sind. Viele kommen sonst mit fertigen Lösungen in Meetings. Erst im Austausch mit den Nutzenden versteht man das wirkliche Problem.

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Vorbereitung der Nutzerinterviews

Wenn ihr zurückblickt, was hat dieses Projekt für euch verändert und welchen Erfolg nehmt ihr für euch mit?

Dr. Christian Matyas:

Die feste Timebox hat uns geholfen, dranzubleiben, wir hatten einen Push. In Schulungen nimmt man sich viel vor und verliert es im Alltag schnell wieder. Über lange Zeit begleitet zu werden, hat einen anderen Charakter. Und die Gewissheit, da ist noch jemand, den ich jederzeit fragen kann.

Mein größter Aha-Moment war, wie stark sich die Gesprächsform auf die Ergebnisse auswirkt. Ein Stakeholdergespräch, das per E-Mail komplett festgefahren war, lief im direkten Austausch plötzlich offen und konstruktiv. Diese Erfahrung nehme ich in jede Abstimmung mit.

Für mich war es außerdem beeindruckend, wie viele Menschen wir im Institut kennengelernt haben und wie viel Bewusstsein das Thema UX und Anforderungsanalyse ausgelöst hat.

Gerade jetzt, wo KI vieles verändert, ist das Menschliche und eine saubere Anforderungsarbeit wichtiger denn je.

Christian Ringleb:

Für mich hatte das Projekt mehrere Reize. Einer davon war die Frage, wer UX eigentlich verantwortet und umsetzt. Im Rahmen von Mentoring-Mandaten ist mein Ziel immer, mich irgendwann überflüssig zu machen, weil das Team es selbst kann. Dass genau das hier geklappt hat, war ein echter Erfolg. Viele Methoden lassen sich mit Bordmitteln anwenden, wenn die Haltung stimmt.

Besonders stark war der Moment, als das Team selbst vorgeschlagen hat, zu den Menschen an den Arbeitsplatz zu gehen. Vor Ort zu sehen, wie sie arbeiten, war für alle ein Aha-Erlebnis. Das Team hat wirklich selbst gearbeitet. Ich habe auf dem Miroboard die schwirrenden Mauszeiger gesehen und wusste, das trägt jetzt.

Und der Kontext selbst war wertvoll. Das Gefühl, bei einer großen Studie etwas beizutragen, das Menschen das Arbeiten erleichtert, ist etwas, das bleibt.

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Das Interview führte

Juliana Hirsing, Senior UX-Writerin

Juliana Hirsing

Senior UX-Writerin

Juliana bringt seit 2009 Text ins Digitale. Als UX-Writerin sorgt sie dafür, dass Sprache Nutzer*innen ans Ziel führt und Produkte messbar erfolgreicher macht.